Medizin & Pflege

Natalie Urwyler: eine Frau, die sich für die Rechte der Frauen im Spitalbereich einsetzt

PD Dre Natalie Urwyler

Die Leitende Ärztin Natalie Urwyler ist eine leidenschaftliche Verfechterin des Mutterschutzes und der Rechte der Frauen im Spitalbereich. Mit unerschütterlichem Mut kämpft sie entschlossen für die berufliche Gleichstellung der Frauen.
Aus Anlass des internationalen Frauentags beantwortet sie uns einige Frage über die Stellung der Frau im medizinischen Bereich.

Welchen Herausforderungen begegneten Sie als Frau im medizinischen Bereich und wie bewältigten Sie diese?

PD Dr. Natalie Urwyler

Ich bin in den 70er-Jahren geboren. Während meines Studiums war ich mit Verhaltensweisen konfrontiert, welche die Notwendigkeit einer Ausbildung für eine Frau in Frage stellten. Das verärgerte mich von Beginn an masslos. Diese Personen waren der Ansicht, dass eine Frau zu Hause bei den Kindern zu sein hatte. Trotzdem war mein Lernwille nicht zu bremsen. Ich war recht begabt in Mathematik, Physik und Chemie. Diese Bereiche waren damals traditionellerweise von Männern beherrscht, so dass sich manche die Frage stellten, ob ich als Frau “normal” sei.

Im Bereich der Medizin wählte ich mit der Anästhesie einen Beruf, der damals eher von Männern ausgeübt wurde. Aber mich zogen Situationen an, die eine rasche Entscheidung forderten, und ich war vom Management der Anästhesie begeistert. Während sechs Jahren arbeitete ich bei der REGA. Dort konnte ich meine Leidenschaft für diesen anspruchsvollen Bereich ausleben.

Glücklicherweise unterstützten mich meine Eltern immer vorbehaltslos. Mein Vater war Chirurg und meine Mutter Radiologiefachfrau. Sie motivierten mich, weiterhin an meinen Traum zu glauben. Später spielte mein Mann ebenfalls eine wichtige Rolle. Er gab mir den Mut, vorwärtszugehen. Mit seiner Unterstützung arbeitete ich 18 Monate im Bereich der Forschung im Ausland. Es handelte sich um eine stark wettbewerbsorientierte und vor allem von Männern beherrschte Arbeit.

Im Jahr 2014 erhielt ich mein Diplom als Privat Docent. Damals war ich erst die zweite Frau, die an der Universität Bern diese Auszeichnung erhielt. Bei der ersten Frau handelte es sich um Prof. Bachofen, der diese Auszeichnung 1998 verliehen wurde.

Um dieses Diplom zu erhalten, musste ich 1,5 Jahre im Bereich der Forschung im Ausland arbeiten. Die lange Abwesenheit stellte insbesondere für uns als Paar eine zusätzliche Herausforderung dar.

Trotz dieser Hindernisse hatte ich die Chance, Männer und Frauen zu treffen, die mich während meiner ganzen Berufslaufbahn ermutigten und unterstützten.

Welches sind die befriedigendsten Momente in Ihrer Arbeit?

Ich schätze besonders die extrem kritischen Notfallsituationen. Die Möglichkeit, das Leben einer schwer verletzten oder erkrankten Person zu retten, verschafft mir eine tiefe Zufriedenheit. Im letzten Monat erhielt ich eine Dankeskarte von einem Mann, der eine Aortendissektion erlitten hatte. Sein Leben hing an einem seidenen Faden, als er in die Notfallstation eingeliefert wurde. Aber wir konnten ihn mit unserem Team retten. Seine Worte berührten mich sehr. Es ist diese Dankbarkeit, die mich in meiner Überzeugung bestärkt, den richtigen Beruf gewählt zu haben.

Inwiefern können Ärztinnen Ihrer Ansicht nach dem Medizinalberuf ihren Stempel aufdrücken?

Die Gesellschaft befindet sich in einer ständigen Entwicklung. Aber die Veränderung hin zur Gleichstellung braucht zu viel Zeit, vor allem im medizinischen Bereich, in dem zahlreiche Frauen tätig sind (Ergotherapie, Physiotherapie, Pflege, Ernährungsberatung, Unterhalt, Logistik, Reinigung, usw.). Auch die Normen werden von Männern ausgearbeitet und die Politik ist immer noch von Männern bestimmt. Für eine mehrheitlich männliche Direktion ist es deshalb schwierig, ein Arbeitsumfeld und Arbeitsbedingungen zu schaffen, welche an die Frauen angepasst sind. Es ist ausschlaggebend, dass die soziale Verantwortung, welche die Frauen mit der Erziehung der Kinder, der Betreuung älterer und beeinträchtigter Personen, usw. übernehmen, anerkannt wird. Die meisten betreuenden Angehörigen sind übrigens Frauen. Diese Betreuungsarbeit wird oft unterschätzt. Zudem wird sie von unserer Gesellschaft nicht anerkannt und nicht bezahlt.

Die Gesellschaft muss unbedingt in Strukturen investieren, welche diese Betreuungsarbeit durch Frauen anerkennen und entschädigen. Es ist auch wichtig, diese gesellschaftliche Belastung aufzuteilen, damit allen ein anständiges Leben garantiert werden kann.

Covid-19 ist diesbezüglich ein gutes Beispiel: Am 15. März 2020 wurde alles geschlossen. Am Montag darauf waren wir mit einem grossen Problem konfrontiert: Da die Frauen keine Möglichkeit für die Betreuung ihrer Kinder hatten, konnten sie nicht zur Arbeit gehen. Der Beitrag der Frauen ist im Bereich der Patientenversorgung wesentlich, da in diesem Bereich mehrheitlich Frauen tätig sind.

Können Sie uns eine Situation schildern, in der Ihr Geschlecht bei der Interaktion mit Patienten eine wichtige Rolle spielte?

Als ich noch Oberärztin in Bern war, hatte ich eine solche Erfahrung. Ich trug ein T-Shirt mit kurzen Ärmeln und meine Tätowierung war sichtbar. In der Nacht musste ich als Frau einen Mann anästhesieren. Dieser wollte jedoch nicht von einer Frau und schon gar nicht von einer tätowierten Frau anästhesiert werden. Ich sagte ihm: “Sie können gehen, wenn Sie wollen”, aber er hatte keine andere Wahl, also blieb er. Ausserdem war auch die Chirurgin eine Frau. In dieser Nacht waren alle Mitarbeitenden Frauen (lächelt). Trotz der Vorurteile arbeiteten wir professionell und führten unseren Auftrag erfolgreich aus. Aber es ist nicht immer einfach, wenn man nur wegen des Geschlechts nicht respektiert wird.

Während meiner Berufslaufbahn wurde ich regelmässig von Patienten belästigt. Es handelte sich insbesondere um unangemessenes Verhalten und Berührungen.

Die sexuelle Belästigung ist eine Ausübung von Macht gegenüber anderen. Es ist deshalb äusserst wichtig, ein berufliches Umfeld zu schaffen, in dem die Sexualität keinen Raum einnehmen kann. Dazu sind sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen eine Sensibilisierung und offene Gespräche notwendig. Die Vorgesetzten haben ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen. Sie dürfen solche Verhaltensweisen nicht tolerieren.

Die Umsetzung von Kampagnen wie die vom Spital Wallis durchgeführte Kampagne «Belästigung» ist entscheidend. Damit wird auf die Problematik aufmerksam gemacht und wir erhalten die notwendigen Mittel, um bei Problemen reagieren zu können.

Kampagne «Belästigung» – Spital Wallis

Um ein gesundes und respektvolles Arbeitsumfeld zu fördern, setzte das Spital Wallis für sein Personal ein neues Unterstützungsnetz um. Diese Initiative wurde im April 2021 lanciert und bezweckt die Unterstützung und Sensibilisierung in Bezug auf die Belästigung innerhalb der Institution (in FR).

Mit diesem Unterstützungsnetz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des französischsprachigen Wallis bezeugt das Spital Wallis seinen dauerhaften Einsatz für das Wohlergehen seines Personals. Diese Plattform bietet einen sicheren Raum, in dem den Angestellten aufmerksam zugehört wird und in dem sie Ressourcen finden, um Situationen von Belästigungen am Arbeitsplatz zu verarbeiten.

Welchen Rat können Sie jungen Frauen geben, die einen Beruf im medizinischen Bereich in Betracht ziehen?

Diesen jungen Frauen empfehle ich, ihren Wunsch nach einem Beruf, in dem sie sich entfalten können, weiterzuverfolgen, und sich für ihre Rechte einzusetzen. Die Frauen haben insbesondere im mentalen und gesellschaftlichen Bereich einen enormen Beitrag geleistet. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Männer ihren Teil der Verantwortung übernehmen, damit alle ein gutes Lebensgleichgewicht finden. Auch die Arbeitgeber müssen ihr Verhalten anpassen und die Frauen sollten es wagen, ihre Rechte einzufordern. Schlussendlich ist entscheidend, dass alle ihren Beruf in einem respektvollen und gerechten Umfeld ausüben können.

Welche Veränderungen wünschen Sie sich im Gesundheitssystem, um die Gleichstellung der Geschlechter und die Inklusion der Ärztinnen zu fördern?

Dazu wünsche ich mir folgende Anpassungen im Gesundheitssystem:

  • Eine stärkere Diversifizierung des Leadership, um vermehrt kreative und an die Frauen angepasste Lösungen zu fördern
  • Unterstützungsstrukturen für die Familien wie Kinderhorte mit verlängerten Öffnungszeiten, um das Gleichgewicht zwischen Berufsleben und Familienleben zu erleichtern
  • Eine Politik, die existenzfähige Strukturen schafft, welche einen Ausgleich zwischen Arbeit und Privatleben fördern

Es muss unbedingt ein Umfeld geschaffen werden, in dem sich die Ärztinnen mit Perspektiven und Möglichkeiten des Leadership beruflich entfalten und gleichzeitig ihre familiäre Verantwortung wahrnehmen können.  

Inwiefern ist der internationale Frauentag für Sie als Gesundheitsfachperson wichtig?

Für mich als Gesundheitsfachperson ist dieser Tag enorm wichtig. Er erinnert uns daran, dass wir noch nicht in einer Welt der Gleichberechtigung leben und dass noch viel zu tun ist, bis die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern erreicht ist. Zudem unterstreicht dieser Tag, wie wichtig es ist, über klare und transparente Beförderungskriterien zu verfügen, damit alle die Gelegenheiten und Herausforderungen in Bezug auf den beruflichen Fortschritt begreifen.

Können Sie uns eine Initiative oder ein Projekt nennen, mit dem Sie andere Frauen im medizinischen Bereich unterstützen?

Im Jahr 2020 habe ich “Struktur’ELLE” mitgegründet. Diese Initiative fördert die Gleichstellung am Arbeitsplatz und bietet den Frauen, die ihre Rechte verteidigen, eine juristische Unterstützung an.

Unsere Organisation bietet Frauen in schwierigen Situationen wie einer Entlassung nach einer Schwangerschaft oder einer Diskriminierung in Bezug auf Beförderung oder Lohn eine Betreuung an. Wir stellen ihnen Ressourcen wie eine juristische Beratung zur Verfügung. Damit wollen wir ihnen helfen, die Situation zu bewältigen. Gleichzeitig fördern wir damit die Gleichstellung im medizinischen Bereich.

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Über den Autor/die Autorin

Jessica Salamin

Collaboratrice communication - Spécialisée médias sociaux