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Wenn Lernen zu einem Problem wird: Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität

Lernen ist nicht immer einfach und natürlich. Für gewisse Kenntnisse wie Laufen oder Sprechen ist der Prozess angeboren. Hingegen wird das Lernen zu einem sozialen Prozess, wenn es erworbene Kenntnisse wie Lesen oder Schreiben betrifft. Zwischen Begabung und Schwäche gibt es auch reale psychologische Störungen wie das Aufmerksamkeitsdefizit und die Hyperaktivität. Man nimmt an, dass mindestens 4 % der Kinder und Jugendlichen im Schulalter von dieser Störung betroffen sind. Aber worum handelt es sich genau? Welche Anzeichen sollten Eltern und Lehrpersonen beachten? Wie können wir unsern Kinder helfen zu reifen und sich zu entwickeln? Wir haben uns mit diesen Fragen an Dr. Boris Guignet, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie-Psychotherapie für Kinder und Jugendliche im Spital Wallis, gewandt.

«Wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.»

Albert Einstein

Was ist das Aufmerksamkeitsdefizit- und/oder Hyperaktivitätssyndrom (AD[H]S)?

Dr. Boris Guignet, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie-Psychotherapie für Kinder und Jugendliche im Spital Wallis

«Man spricht von einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit/ohne Hyperaktivität (AD[H]S), wenn ein Kind ein höheres Niveau an Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität-Impulsivität aufweist, als sie üblicherweise bei Kindern in seinem Alter beobachtet wird», erläutert Dr. Boris Guignet.

Wo befindet sich die Grenze zwischen einem normalen Verhalten und einer psychologischen Störung? 

Die Grenze zwischen einem normalen und einem pathologischen Verhalten ist sehr subtil und oft schwer zu ermitteln. Wer hat vor den Schulferien noch nie unter Konzentrationsschwierigkeiten bei Mathematikaufgaben gelitten? Wie oft reagieren wir auf eine Situation, die uns wütend macht, impulsiv und ohne zu überlegen? «Es ist durchaus normal, wenn man gelegentlich unaufmerksam oder impulsiv ist. Dadurch wird das tägliche Gleichgewicht und die Entwicklung eines Kinds nicht gefährdet», betont Dr. Boris Guignet. «Mit AD(H)S haben wir es zu tun, wenn die Symptome so beständig und überwältigend sind, dass sie das tägliche Leben des Kinds beeinträchtigen und ein Leiden verursachen, das sowohl für das Kind als auch für seine Umgebung problematisch wird», präzisiert der Psychiater.

Welche Anzeichen bestehen bei einem AD(H)S?

Die Symptome eines AD(H)S lassen sich in drei Hauptkategorien unterteilen: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Gemäss den internationalen Klassifikationen müssen mehrere Symptome der drei erwähnten Kategorien in mindestens zwei Lebensbereichen des Kinds (Familie, Schule, Freizeit, usw.) während mindestens 6 Monaten auftreten, bevor man sich mit einer Diagnose AD(H)S befassen kann.

  1. Unaufmerksamkeit: das Kind ist sehr leicht abgelenkt.
  2. Hyperaktivität: das Kind ist ständig unruhig und ungeduldig; es kann sich nicht kontrollieren.  
  3. Verbale und motorische Impulsivität: das Kind ist leicht reizbar und hat Mühe, die Emotionen, die Frustrationen und den Stress zu verarbeiten.

Welche Ratschläge für die Eltern?

Dr. Boris Guignet gibt den Eltern und dem Umfeld eines Kinds, das Symptome eines möglichen AD(H)S aufweist, folgende Ratschläge:

  • Das freie Spielen und die Autonomie fördern: die Kinder haben immer weniger Möglichkeiten, frei zu spielen und sich ohne Bewertung der Eltern über freie, symbolische Spiele auszudrücken. Für die Eltern besteht die Herausforderung darin, ihre Kinder anzuregen, indem sie ihnen einen Rahmen bieten, in dem sie selbstständig spielen und mit den sozialen Beziehungen experimentieren können.
  • Körperliche Tätigkeiten und Aktivitäten im Freien fördern: die körperliche Tätigkeit tut allen Kindern gut. Sie ist für ein Kind mit AD(H)S noch viel wichtiger.
  • Strafen vermeiden: Kinder, die unter einer Hyperaktivität und/oder einem Aufmerksamkeitsdefizit leiden, müssen sich, wie alle anderen Kinder auch, strukturieren und an Verbote halten können. Es ist wichtig, dass die Regeln klar sind. Man darf jedoch nicht vergessen, dass diese Kinder ständig das Gefühl haben zu versagen und ihre Eltern nicht zufriedenstellen zu können. Ihr Stresslevel ist also höher als beim Durchschnitt der Kinder und Strafen können zu einer Erhöhung dieses Stresses führen. Deshalb wird empfohlen, jede Bemühung des Kinds positiv zu bewerten. Dadurch kann es wieder Selbstvertrauen gewinnen, und dies trägt zu einer Abschwächung der Symptome bei.
  • Übermässigen Medienkonsum vermeiden: die digitalen Medien können anscheinend eine Lösung darstellen, um die Kinder zu «beruhigen» und wichtige Zeit zu gewinnen. Es handelt sich jedoch um eine Scheinlösung. Die schädlichen Folgen übersteigen den scheinbaren Nutzen bei Weitem.
  • Wachsam bleiben, ohne sich unnötig beunruhigen zu lassen: es ist wichtig, dass wir als Eltern die Fähigkeiten unserer Kinder positiv und aufwertend beurteilen. Wenn Schwierigkeiten auftauchen, sollte man darüber sprechen und versuchen zu verstehen, bevor man an ein psychiatrisches Problem denkt. «Bei anhaltenden Symptomen kann sich jedoch eine vertiefte Diagnose mit einem Kinderpsychiater als sinnvoll erweisen», betont Dr. Guignet.  

Die Diagnose

Der Kinderpsychiater ist die einzige Fachperson, die gleichzeitig eine medizinische und eine psychologische Übersicht über die Entwicklung des Kinds besitzt. Diese beiden Aspekte müssen unbedingt berücksichtigt werden, um mit einem Neuropädiater die Differentialdiagnose zu verfeinern und andere Probleme auszuschliessen (Gehör, Sehvermögen, Sprache, Epilepsie, Verständnisprobleme, neurologische Probleme, Depression, Angstzustand, usw.).

«Bevor eine Diagnose gestellt wird, muss eine umfassende und detaillierte Evaluation erfolgen und die Situation muss in ihrer Gesamtheit betrachtet werden», unterstreicht Dr. Guignet. «Man kann sich nicht auf einen einzigen Test abstützen, um ein AD(H)S nachzuweisen. Ein Austausch mit dem Umfeld des Kinds, insbesondere mit den Eltern, Grosseltern und Lehrpersonen, ist grundlegend, um unter Berücksichtigung der globalen Verhaltensweise des Kinds in mehreren Lebenssituationen eine präzise Diagnose zu stellen».

Die Bedeutung eines frühzeitigen Erkennens

Das von einem AD(H)S verursachte Leiden zeigt sich nicht nur in der Schule, sondern vor allem im sozialen Leben und in der persönlichen Entwicklung sowie in den zwischenmenschlichen Beziehungen des Kinds. Nicht selten leiden Personen mit AD(H)S aufgrund des fehlenden Selbstvertrauens und der Verhaltensstörungen unter einer Depression.

«Wenn man von Lernproblemen spricht, denkt man oft an das schulische Lernen. Das ist aber sehr vereinfachend» erklärt der Psychiater. «Das Wichtigste in der Entwicklung des Kinds sind die sozialen und zwischenmenschlichen Lernprozesse, bei denen man lernt, Freunde zu gewinnen und Anpassungslösungen zu finden, wenn man zum Beispiel zurückgewiesen wird». Um den Kindern zu helfen, sich in allen Lebensbereichen möglichst gut zu entwickeln, ist es deshalb sehr wichtig, ein allfälliges AD(H)S so früh wie möglich zu erkennen, um die richtigen Strategien zu seiner Behandlung umzusetzen.   

Die Behandlung: in welchem Alter und wie lange?

Der Zeitpunkt und die Dauer der Behandlung sind sehr unterschiedlich. «Es gibt keine absolute Regel. Gewisse Kinder zeigen schon sehr früh akute Symptome mit einer grossen Auswirkung auf das Familienleben. In diesen Fällen lohnt sich eine Sprechstunde», erläutert Dr. Guignet. Mit unserer Arbeit wollen wir den Eltern helfen zu verstehen, was sich hinter dem problematischen Verhalten eines Kinds verbirgt. Manchmal genügt es, gewisse Gewohnheiten zu verändern, damit sich die Situation bedeutend verbessert. Ein unruhiges Kind leidet nicht unbedingt unter einer Psychopathologie oder einem AD(H)S.

Eine integrierte Therapie

Die Therapie besteht immer aus einer psychologischen Unterstützung, die manchmal mit einer Medikation verbunden ist. Obwohl stark umstritten, ist Ritalin (Methylphenidat) ein Molekül mit geringen Nebenwirkungen. «Methylphenidat ermöglicht die Stimulation der neuronalen Kreisläufe in gewissen zerebralen Zonen, insbesondere im präfrontalen Cortex», präzisiert der Psychiater. «Ritalin bildet eine Art von Krücke, mit der die organisatorischen und planerischen Fähigkeiten trainiert werden können». Um ein Bild aus dem Sport zu benutzen: wenn die Muskeln einmal genug trainiert sind, um die Bewegung allein auszuführen, ist die Krücke nicht mehr nötig.

Ritalin ist kein Mittel zur Verbesserung der schulischen Leistungen

Die Medikation muss als Krücke angesehen werden, die dem Kind hilft, gewisse Gehirnzonen zu «stärken». Sie ist aber nie ein Mittel zur künstlichen Verbesserung der schulischen Leistungen eines Kinds. «Unsere therapeutische Strategie wird nicht von den pädagogischen Zielen der Schule bestimmt. Die Aufgabe des Kinderpsychiaters besteht in erster Linie darin, sich um das Wohl des Kinds in seiner Gesamtheit zu kümmern. Dies geschieht  durch die Unterstützung seiner Entwicklung innerhalb seiner Familie, seinem Umfeld, und natürlich der Schule», betont Dr. Boris Guignet.

Wie kommt man zu einer Sprechstunde?

Es genügt, die Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie des Spital Wallis unter 027 603 79 10 anzurufen oder eine E-Mail an chvr.secrmedical.pedopsy(at)hopitalvs.ch zu schreiben und um einen Termin zu bitten. Im Allgemeinen erfolgt dies durch die Eltern. Seltener kann die Schule diese Initiative ergreifen, allerdings immer in Absprache mit den Eltern.

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Über den Autor/die Autorin

Francesca Genini-Ongaro

Collaboratrice spécialisée en communication

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