In der Schweiz begehen jedes Jahr rund tausend Personen Selbstmord. Obwohl die Suizidrate (Suizidhilfe nicht inbegriffen) innerhalb von dreissig Jahren um die Hälfte zurückgegangen ist, gehen in unserem Land immer noch 1 bis 2 % der Todesfälle auf Suizid zurück. Bei den Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren ist er die häufigste Todesursache. Da praktisch alle Personen, die einen Suizidversuch unternehmen, vorgängig Suizidgedanken haben, ist es wichtig, mit diesem Tabu und der Scham, die immer noch mit diesem Thema verbunden sind, zu brechen. Was kann man bei Suizidgedanken tun? Wie kann man leidenden Angehörigen helfen? Um diese Fragen zu beantworten, haben wir mit Dr. Georges Klein, Leiter der Abteilung stationäre Psychiatrie-Psychotherapie für Erwachsene im Spital Wallis gesprochen.
Suizidgedanken stehen nicht unbedingt in Verbindung mit einer psychiatrischen Pathologie
«Bei Suizidgedanken handelt es sich um die Vorstellung, die Planung, die Vorbereitung oder den Wunsch, seinem Leben ein Ende zu setzen», erklärt Dr. Klein. Es handelt sich um ein häufiges Phänomen, das nicht unbedingt auf einer psychiatrischen Pathologie beruht. «Ich glaube, dass es keinen Menschen gibt, der im Verlauf seines Lebens nicht schon einmal an die Möglichkeit gedacht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dies natürlich auf mehr oder weniger akute, konkrete und geplante Art», fügt der Psychiater an. Deshalb «können die Suizidgedanken nicht behandelt werden; was behandelt werden muss, ist das Leid, das in Zusammenhang mit diesen Gedanken entsteht.»
80 bis 90 % der Suizide finden in einem psychopathologischen Kontext statt
Obwohl Suizidgedanken nicht unbedingt das Zeichen einer psychiatrischen Pathologie sind, finden die meisten Suizide in einem Kontext statt, in dem die Person zum Zeitpunkt der Handlung unter einer psychischen Störung leidet. «Meistens handelt es sich um eine Depression», teilt der Facharzt mit, «und eine Depression kann behandelt werden, so dass die Suizidgedanken auf natürliche Art verschwinden.» Die korrekte Behandlung einer Depression kann also Leben retten!
Das Aussprechen von Suizidgedanken ist ein Hilferuf
Auch wenn man Suizidgedanken nicht im Voraus psychiatrisieren darf, müssen sie immer sehr ernst genommen werden. Denn die meisten Personen, die zur Tat schreiten, haben vorher darüber gesprochen. Ausserdem «kann zwischen dem Moment, in dem eine Person an einen Suizid denkt und dem Moment, in dem sie darüber spricht, viel Zeit vergehen, manchmal sogar Jahre», betont Dr. Klein. «Oft ist es ein Hilferuf, wenn eine Person mit einem Verwandten oder dem Hausarzt über die eigenen Suizidgedanken spricht. Ausserdem stellen wir fest, dass eine Person, die beschlossen hat, ihrem Leben ein Ende zu setzen, nicht mehr darüber spricht, um nicht an der Umsetzung des Vorhabens gehindert zu werden», präzisiert der Psychiater. «Das erklärt, warum die Umgebung einer Person, die zur Tat schreitet, oft überrascht ist, dass sie nichts bemerkt hat. Das betrifft die Familie, aber auch das Pflegepersonal», bedauert der Facharzt.
Es gibt immer Alternativen zum Suizid
«Der Suizid ist eine Nicht-Wahl», erklärt der Psychiater. «Die Person, die Selbstmord begeht, ist überzeugt, dass sie keine Alternative hat. Allerdings gibt es immer Alternativen zum Suizid, man muss nur darüber sprechen. Wenn man Suizidgedanken hat, heisst das nicht, dass man hospitalisiert werden muss: Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die man in Betracht ziehen kann. Ein Spitalaufenthalt, «um vor Suizidgedanken geschützt zu sein», ist nicht immer eine Lösung und nicht unbedingt realistisch.
Die Warnzeichen
Wenn sich eine Person ohne offensichtlichen Grund von Gegenständen trennt, die ihr viel bedeutet haben, wenn sie viel spendet, ihr Testament aufsetzt oder einen Abschiedsbrief schreibt, muss man daran denken, dass diese Person möglicherweise ihrem Leben ein Ende setzen will. «Es handelt sich um Warnzeichen, die den Angehörigen und den Ärzten nicht entgehen dürfen», betont der Psychiater. «Dann gibt es natürlich alle klinischen Anzeichen einer Depression, die untersucht werden müssen. Wenn eine Person ihr Verhalten ändert, indem sie sich zurückzieht oder sich abschottet, wenn sie Schlafprobleme hat oder eine Zunahme des Alkoholkonsums festzustellen ist, muss man daran denken, dass möglicherweise Suizidgedanken bestehen», fügt der Facharzt an.
Woher kommen die Suizidgedanken?
«Das ist sehr schwer zu sagen», teilt der Psychiater mit. «Die Suizidalität, also das Risiko, dass eine Person Suizid begeht, ist stark schwankend. Sie kann sich von einer Stunde zur andern ändern. Zudem können, je nach Situation der Person, externe Ereignisse wie gute oder schlechte Nachrichten eine entscheidende Rolle spielen», erläutert Dr. Klein.
Was tun? Darüber sprechen
Wenn eine nahestehende Person Suizidgedanken hegt, muss als erstes darüber gesprochen werden. «Im Allgemeinen besteht die Vorstellung, dass ein Gespräch mit einer suizidgefährdeten oder deprimierten Person über Suizid eher die Durchführung des Suizids begünstigen könnte. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Der Familien- und Freundeskreis muss anwesend und aufmerksam sein, zuhören, konkrete Fragen stellen (wann? wo? wie?) und Panik vermeiden.
Hilfe holen
Wenn sich uns eine nahestehende Person anvertraut, dürfen wir nicht zögern, Hilfe zu holen. Es ist nämlich wichtig, die Isolation zu verhindern, und zwar nicht nur die Abschottung der Person mit Suizidgedanken, sondern auch den Rückzug ihres Umfelds. Dazu gibt es mehrere Verbände, die eine nicht spezialisierte Hilfe anbieten:
- Gang nit: Walliser Verein für Suizidpreväntion 027 203 08 08
- Pro Juventute (Zuhörbereitschaft und Ratschläge für Jugendliche): 147
- Die Dargebotene Hand (Zuhörbereitschaft und Ratschläge für Erwachsene): 143
- Sanitätsnotruf: 144
- Netzwerk Krise und Suizid Wallis
- Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz
Medizinische Versorgung
Wenn alle anderen Hilfsmassnahmen nicht genügen, muss in einem zweiten Schritt eine spezialisierte psychiatrische und psychologische Unterstützung erfolgen. «Die professionelle Hilfe muss in Anspruch genommen werden, sobald sich das Umfeld überfordert fühlt und Angst hat», präzisiert der Psychiater.
Behandlung
Eine psychotherapeutische und/oder medikamentöse Behandlung setzt niemals bei den Suizidgedanken selbst an. «Nicht die Suizidgedanken müssen behandelt werden, sondern das Leid, das in Zusammenhang mit diesen Gedanken entsteht», erklärt der Psychiater.
Die Pandemie als erschwerender Faktor
Während der ersten Welle der Covid-19-Pandemie, zumindest von März bis Mai
2020, ist die Suizidrate gesunken. In Krisensituationen verstärken die
Solidarität und die geteilten Befürchtungen die sozialen Bindungen und wirkend
schützend. Mit der zweiten und dritten Welle hat sich das geändert und wir
stellen eine gegenteilige Entwicklung fest. Die Einschränkungen in Zusammenhang
mit der Pandemie wirken sich schwerwiegend auf die psychische Gesundheit der
allgemeinen Bevölkerung aus. Die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten,
die Beziehungsprobleme, die Partnerschafts- und Familienkrisen sind Faktoren,
die zu einem Anstieg der Suizide beitragen können.
Nützliche Links:
OBSAN: Suizidgedanken und Suizidversuche in der Schweizer Bevölkerung Walliser Gesundheitsobservatorium WGO: Suizid