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Mobbing in der Schule: sich trauen, darüber zu sprechen

Man schätzt, dass in der Schweiz 10 bis 15 % der Kinder und Jugendlichen Opfer von Mobbing in der Schule sind. Im Gegensatz zu Körperverletzungen ist psychologisches Mobbing meistens unsichtbar und schwer aufzudecken. Es handelt sich um ein schwerwiegendes gesellschaftliches Problem, das auf keinen Fall verharmlost werden darf. Mobbing in der Schule ist die Ursache zahlreicher psychischer Störungen bei den Jugendlichen und kann bei den Opfern bis zum Suizid führen. Gespräch mit Frau Dr. Géraldine Petraglia, Leitende Ärztin in der Abteilung Psychiatrie-Psychotherapie für Kinder und Jugendliche (CHVR).

Was ist Mobbing in der Schule?

Dr. Géraldine Petraglia, Leitende Ärztin in der Abteilung Psychiatrie-Psychotherapie für Kinder und Jugendliche (CHVR)

Mobbing in der Schule beinhaltet eine Form von absichtlicher Gewalt eines oder mehrerer Individuen gegenüber einem Opfer. Die Gewalt kann verbal, psychologisch oder physisch sein und zeichnet sich dadurch aus, dass sie wiederholt angewendet wird mit dem Ziel, das Opfer zu schwächen und auszugrenzen.  Beim Mobbing gibt es normalerweise Zeugen, die diesen Gewalttaten machtlos gegenüberstehen.

Hier einige Beispiele von Mobbing:

  • Übernamen mit negativer Bedeutung geben
  • beleidigen
  • falsche Gerüchte in Umlauf bringen
  • demütigen
  • erpressen
  • drohen (bis zu Todesdrohungen!)
  • eine Person in einem Raum einschliessen
  • Gegenstände einer Person verstecken
  • wegstossen
  • an den Haaren ziehen
  • eine Person anspucken
  • schlagen
  • usw.

Die Ursache zahlreicher psychischer Störungen

«Was wir innerhalb der Spitaleinheit von Siders feststellen, ist sehr besorgniserregend», erzählt uns die Kinderpsychiaterin. «Mehr als die Hälfte der Jugendlichen, denen wir hier begegnen, sind Opfer von Mobbing in der Schule. Zusätzlich zu Angststörungen und sozialen Phobien entwickeln viele Jugendliche sogenannte «somatoforme Störungen», das heisst körperliche Beschwerden, die eine psychische Ursache haben. Es gibt auch viele Jugendliche mit depressiven Zuständen und sogar mit Suizidgedanken», teilt Dr. Petraglia besorgt mit.

Mobbing in der Schule kann also schwerwiegende psychische Störungen verursachen wie:

  • Angstzustände
  • schulische Phobien
  • soziale Phobien
  • somatoforme Störungen (körperliche Beschwerden mit psychischer Ursache)
  • depressive Episoden, manchmal begleitet von Suizidgedanken

Eine komplexe Gruppendynamik

Im Gegensatz zur verbreiteten Meinung geht der Mobber nicht unbedingt auf das «schwächste Glied“ der Gruppe los. Jedes Kind kann ohne ersichtlichen Grund in diese Problematik verwickelt werden. «Mobbing in der Schule findet immer innerhalb einer Gruppendynamik statt, bei der das Opfer zwischen einem oder mehreren Mobbern und Zeugen, die gegen ihren Willen die Rolle von ‘’Zuschauern’’ spielen, gefangen ist. Die Kameraden bleiben passiv, weil sie Angst haben, unter Vergeltungsmassnahmen zu leiden oder, noch schlimmer, selbst zum Ziel der Mobber zu werden», erläutert Dr. Petraglia. «Das Opfer wird immer schwächer, verliert das Vertrauen in sich selbst und vor allem in die anderen. Es fühlt sich von seinen Kameraden, aber auch von den Erwachsenen, die manchmal nichts bemerken, fallengelassen. So befindet sich der Mobber in einer Machtposition und mobbt ungestraft weiter. Es handelt sich um einen Teufelskreis, aus dem ohne Intervention einer externen Person nur schwer oder gar nicht herauszukommen ist», betont die Fachärztin.

Die Alarmzeichen

Mobbing in der Schule wird von Erwachsenen selten bemerkt. Manchmal kommt es zu Verhaltensänderungen, die mit einem Problem von Mobbing in Zusammenhang stehen können. Eltern und Angehörige sollten besonders aufmerksam sein und zuhören, wenn das Kind:

  • Angst hat, zur Schule zu gehen
  • sich allein gelassen und traurig fühlt
  • sich verschliesst und isoliert
  • sich für sein Unwohlsein schuldig fühlt
  • nicht mehr über die Schule und seine Kameraden spricht und nicht mehr von seinem Tag erzählt
  • oft in der Schule fehlt, weil es verschiedene und unklare Beschwerden angibt

«Auch wenn es keine spezifischen Anzeichen gibt, sind die häufigen Absenzen ein Symptom, das bei Mobbing in der Schule in den meisten Fällen zu beobachten ist», betont Dr. Petraglia. «Es handelt sich um eine Flucht aus einem Leidensdruck, der unerträglich geworden ist.»

Die Rolle der sozialen Netzwerke: ein exponentieller Verstärker

Mit der Allgegenwart der sozialen Netzwerke geht die Verspottung auch über die Schule hinaus unablässig in einem zeitlosen Raum weiter, der keine Verschnaufpause ermöglicht. «Mobbing dringt in die Privatsphäre der Opfer ein. Es findet wie in einem Teufelskreis am Abend, während der Nacht, am Morgen und während der Schulzeit statt. Die Folgen der psychologischen Gewalt des Cyber-Mobbings sind für die Jugendlichen verheerend und können zu Suizidgedanken und selbstzerstörenden Handlungen führen», erläutert Dr. Petraglia beunruhigt.

Sich trauen, darüber zu sprechen

Als Erstes muss man sich unbedingt trauen, darüber zu sprechen: mit den Eltern, Freunden, der Schulpflegefachfrau oder Lehrpersonen, denen man vertraut. Man muss sich nicht schämen, wenn man zum Opfer von Mobbing wird! Jede erwachsene Person im Schulgebäude kann kontaktiert werden und muss reagieren, um das Opfer zu schützen. Im Wallis gibt es auch die ZET (Zentren für Entwicklung und Therapie des Kindes und Jugendlichen), in denen ausgebildete Fachpersonen arbeiten, die bereit sind, in einer privilegierten Partnerschaft mit den Schulen zu intervenieren.

Nie verharmlosen

«Eine erwachsene Person, der ein Kind von Mobbing berichtet, darf dessen Aussage nie verharmlosen. Sie muss sich Zeit nehmen, zuhören und präzise Fragen stellen, um detailliert zu überprüfen, was sich tatsächlich abspielt», ruft Dr. Petraglia in Erinnerung. «Wir stellen fest, dass Kinder, die erfolglos bei einem Erwachsenen Hilfe gesucht haben, noch zusätzlich geschwächt werden und in eine Situation geraten können, in der das Leiden chronisch wird», fügt die Kinderpsychiaterin hinzu.

Die umzusetzenden Strategien

«Wir wissen heute, dass ein strafendes und einmaliges Vorgehen nicht wirkt. Im Gegenteil, es verschlimmert oft noch die Situation», erklärt Dr. Petraglia. Auch das Ignorieren des Mobbers oder des Aggressors ist eine ineffiziente Strategie. «Um aus der Problematik des Mobbings herauszukommen, muss eine Gruppe von Erwachsenen bei der Gruppe der leidenden Kinder intervenieren», insistiert die Psychiaterin. «Es ist wichtig, dass diese Interventionen länger andauern und dass sie wiederholt werden, bis sich die Dynamik innerhalb der Gruppe verbessert», fügt Dr. Petraglia an.  «Die zeitliche Dauer der Intervention ist sehr wichtig. Man sieht regelmässig einmalige und ungenügende Interventionen mit einem raschen Wiederauftreten des Mobbings. In einem solchen Fall verliert das Opfer das Vertrauen und verzichtet oft darauf, nochmals Hilfe zu holen.»  

Strafrechtliche Sanktionen und Folgen

Obwohl die Bestrafung in einer ersten Zeit nicht funktioniert, kann sie zweckdienlich sein, um das Opfer zu schützen, wenn alle Mediationsversuche zur Verbesserung der Situation erfolglos geblieben sind. Die Bestrafung kann von einer Wegweisung von der Schule bis zu einer Strafklage gehen. «Wir empfehlen den Familien der Opfer, bei sehr schwerwiegenden und gesetzlich strafbaren Handlungen wie Todesdrohungen oder Anstiftung zum Suizid Anzeige zu erstatten», erläutert Dr. Petraglia.

Loyale Freunde als beste Prävention

Freunde befinden sich im Mittelpunkt unseres Lebens, wenn alles gut geht. Sie sind aber noch wichtiger, wenn wir uns in Schwierigkeiten befinden. Dies ist auch in Zusammenhang mit der Schule so, wenn es darum geht, Mobbingversuchen zu begegnen. «Treue Freunde, auf die man sich innerhalb der Schule stützen kann, sind auf dem Schulweg und in den Pausen eine grosse Unterstützung», erklärt die Ärztin.

Die Bedeutung der Erziehung und unserer kollektiven Werte

Mobbing in der Schule ist ein Symptom eines Missstands, der uns als Gesellschaft in Bezug auf unsere kollektiven Werte in Frage stellt. Welchen Stellenwert räumen wir der Freundschaft, der Solidarität und dem Mitgefühl ein? Nicht in der Theorie, sondern in unserem konkreten Leben, innerhalb unserer Familie, unserer Arbeit und gegenüber unseren Nachbarn? Welche Werte wollen wir unseren Kindern und den kommenden Generationen vermitteln, abgesehen von den technischen Kompetenzen, die wir für Diplome benötigen?

Das Beispiel ist überzeugender als Worte

«Die Erziehung zur Gerechtigkeit, zum Wohlwollen und zum Mitgefühl beginnt bereits in sehr jungen Jahren», präzisiert Géraldine Petraglia. «Diese Fähigkeiten integriert das Kind nicht theoretisch, sondern durch das Beispiel der Erwachsenen. Je früher Werte wie Gerechtigkeit und Mitgefühl eingebracht werden, desto gewappneter fühlen sich die Kinder, wenn sie auf Situationen reagieren müssen, die ihnen nicht normal erscheinen. So können sie sich selbst und auch ihre Kameraden besser vor verbalen, moralischen und physischen Aggressionen schützen», fügt die Psychiaterin an.

«Das Beispiel der Erwachsenen im Umfeld des Kindes spielt bei der Erziehung zum Mitgefühl und zur Sorge um die Mitmenschen eine grundlegende Rolle. Ein gutes Beispiel geben bedeutet für die Erwachsenen, Verhaltensweisen, die zu Leid führen, nicht zu ignorieren, diese Verhaltensweisen zu benennen, ohne Tabu darüber zu sprechen und anschliessend gemeinsam mit dem Kind die Situation zu verbessern. Die Jugendlichen, die in einem solchen Klima aufgewachsen sind, können besser auf Mobbingsituationen in der Schule, aber auch auf alle anderen Arten von Mobbing regieren.»

Nützliche Links:

Die Dargebotene Hand Wallis :   143

Kinder- und Jugendberatung 147 (Gratisanruf)  

Polizei: 117

Zentrum für Entwicklung und Therapie des Kindes und Jugendlichen
027 606 48 25

Tschau.ch
Hilfe und Informationen für Jugendliche

Über den Autor/die Autorin

Francesca Genini-Ongaro

Collaboratrice spécialisée en communication

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