Die Gesundheitsmassnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie wie Lockdown, Quarantäne und Masken beeinträchtigen die psychische Gesundheit der allgemeinen Bevölkerung. Am meisten betroffen sind allerdings diejenigen Personen, die bereits vor der Krise unter Angstzuständen oder Depressionen gelitten haben. Wie wirkt sich die Pandemie auf die psychische Gesundheit der gefährdetsten Personen aus? Was hat sich in der Psychotherapie verändert? Gespräch mit Stefan Rehmann, Chefpsychologe und Psychotherapeut FSP am Psychiatriezentrum Oberwallis (PZO).
Werden die Psychotherapeuten und Psychiater vermehrt beansprucht?
Wir haben vor allem bei den Patienten, die bereits vor der Krise in Behandlung waren, eine intensivere Nachfrage nach psychiatrischer und psychotherapeutischer Betreuung festgestellt. Wir haben auch beobachtet, dass eine gewisse Anzahl ehemaliger Patienten wieder eine Sprechstunde aufgesucht hat. Eine Umfrage der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) bei 1300 Psychologinnen und Psychologen in der Schweiz hat gezeigt, dass während des Jahres 2020 rund 46 % dieser Fachpersonen eine Zunahme von Anfragen für eine Therapie oder Sprechstunde verzeichnet haben.
Stellen Sie eine Verschlimmerung gewisser Erkrankungen fest?
Obwohl es auf internationaler Ebene noch keine langfristige und grossangelegte Studie zu diesem Thema gibt, berichten zahlreiche Psychiater und Psychotherapeuten über Beschwerden, die innerhalb der letzten 12 Monate häufiger behandelt werden mussten. Wir haben insbesondere eine Zunahme von Angstzuständen, Suchtverhalten und Depressionen beobachtet.
Haben notleidende Personen Zugang zur Hilfe?
Der durch die Gesundheitsmassnahmen erzwungene Rückzug hat auch negative Auswirkungen auf die Diagnose und in der Folge auf die Versorgung gewisser psychischer Beschwerden. Oft fehlt Personen mit depressiven Symptomen die notwendige Energie. Bei einer Depression führt die Abschottung, die durch die physischen und sozialen Abstandsregeln erzwungen wird, zu einem Teufelskreis aus Ohnmacht, Angst, Schuldgefühlen und Selbstabwertung. Das erschwert eine externe Hilfe, die in diesen Situation lebenswichtig wäre.
Wirkt sich die Pandemie auf alle Menschen negativ aus?
Nein, das hängt von den Personen ab. Die Angst, schwer zu erkranken, und die Einschränkungen in Zusammenhang mit der Pandemie haben bei den meisten Leuten zusätzlichen Stress ausgelöst. Aber eine Minderheit hat zum Beispiel den Lockdown als eine richtige Entlastung erlebt. Das ist insbesondere der Fall bei Personen, die auf der Arbeit oder in der Schule unter Stress standen, aber auch bei solchen, die unter Sozialangst leiden. Zu Hause bleiben zu können und soziale Kontakte zu vermeiden, ohne sich schuldig zu fühlen oder unter einem externen Druck zu stehen, kann als Befreiung erlebt werden. Natürlich erleichtert diese Ausnahmesituation die betroffenen Patientinnen und Patienten nur kurzfristig. Längerfristig ist eher mit einer Intensivierung der Symptome der verschiedenen Erkrankungen zu rechnen.
Wie haben Sie die Einführung der Fernsprechstunden erlebt?
Der Ersatz der Gespräche vor Ort durch die Telemedizin hat zwar erlaubt, die therapeutische Beziehung aufrechtzuerhalten, aber die Fernsprechstunden haben sich in vielen Fällen als klar ungenügend erwiesen. Ich denke zum Beispiel an schwerhörige Personen oder solche, die unter einer Psychose leiden.
Wir wissen heute, dass die Qualität der Beziehung zwischen dem Therapeuten und seinem Patienten entscheidend ist. Das Schaffen eines vertrauensvollen Raums, der Privatsphäre und der Sicherheit sind Prozesse, die dank einer verbalen, vor allem aber einer nonverbalen Kommunikation stattfinden. Leider schränken Fernsprechstunden und das Tragen der Maske diese nonverbale Kommunikation drastisch ein. Der Gesichtsausdruck ist hinter der Maske kaum erkennbar und die Körpersprache ist über eine Videokonferenz oder über ein Telefongespräch nicht zugänglich. Dabei handelt es sich um wertvolle Informationen, die dem Therapeuten helfen, den Gefühlszustand des Patienten korrekt einzuschätzen.
Haben Sie aufgrund der Gesundheitsmassnahmen die Versorgung anpassen müssen?
In einer Psychotherapie spielen die individuellen Interessen und Kompetenzen der Patienten eine wichtige Rolle. Für eine erfolgreiche Behandlung ist es entscheidend, dass der Patient seine Ressourcen auf konkrete Art und Weise erleben kann. Aufgrund der Einschränkungen in Zusammenhang mit der Pandemie ist das jedoch oft nicht möglich, da die meisten sozialen und kulturellen Aktivitäten nicht stattfinden können.
Der psychotherapeutische Behandlungspfad wird durch die Covid-19-Pandemie auf eine harte Probe gestellt. Es handelt sich um eine Herausforderung, die uns dazu antreibt, neue Wege zu beschreiten und nach Alternativen zu suchen. Auch wenn zahlreiche soziale Aktivitäten nicht möglich sind, können individuelle Alternativen angeboten werden: kreative Hobbys, kleine Projekte in der Natur, sensorische Erfahrungen zur Stimulation der fünf Sinne, usw. Für eine erfolgreiche Behandlung ist es entscheidend, dass der Patient seine Ressourcen auf konkrete Art und Weise erleben kann. Deshalb beziehen wir auch detaillierte Berichte, Übungen für die Vorstellungskraft und Rollenspiele in die Behandlung mit ein.
Starker Anstieg an psychischer Belastung in der
zweiten Covid-19-Welle
Die neueste Umfrage der Universität Basel zur psychischen Belastung in der
zweiten Covid-19-Welle hat ergeben, dass der psychische Stress im Vergleich zum
Frühjahr deutlich zugenommen hat. Der Anteil Personen mit schweren depressiven
Symptomen betrug während des Lockdowns im April rund 9 Prozent und stieg im
November auf 18 Prozent. Besonders stark betroffen sind junge Leute und
Personen, die durch die Pandemie finanzielle Einbussen erfahren. Ferner ist die
Romandie stärker betroffen als die übrige Schweiz.
*Swiss Corona Stress Study,
Universität Basel, Dezember 2020
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