Medizin & Pflege Testimonials

Ärztin und Heilerin mit derselben Motivation

Alternativmedizin, Komplementärtherapie oder integrierende Medizin sind im Spitalbereich kein Tabu mehr. Die Vorlage über die Komplementärmedizin wurde  2009 vom Volk angenommen. Seither gewinnt diese Praxis immer mehr das Vertrauen der Gesundheitsfachpersonen. Es geht nicht mehr darum, eine wissenschaftliche Medizin einer Medizin gegenüberzustellen, die keine wissenschaftliche Grundlage hat. Vielmehr geht es um die Integration der verschiedenen therapeutischen Ansätze, um die Patientinnen und Patienten bestmöglich zu unterstützen. Wie andere Westschweizer Spitäler (HUG oder CHUV) öffnet auch das Spital Wallis den Gebetsheilerinnen und -heilern (faiseuers de secret) seine Türen. Wir haben uns mit Florence Sierro-Müller, Assistenzärztin im Spital Wallis und Gebetsheilerin, unterhalten.

Was ist ein/e Gebetsheiler/in?

Die faiseurs de secrets, die auch coupeurs de feu oder coupeurs de douleur genannt werden, sind eine Kategorie von Heilerinnen und Heilern, die zur Linderung von Beschwerden das Gebet einsetzen. Dabei kann es sich um Verbrennungen, Blutungen, Warzen, aber auch um andere physische und psychische oder sogar existentielle Leiden handeln!

Braucht man dazu eine spezielle Veranlagung?

On m’a souvent dit « tout le monde peut faire le seMan hat mir oft gesagt: «Alle können das Gebetsheilen anwenden, aber nicht alle sind fähig, dies zu tun». Gemäss meiner Wahrnehmung besitzt jedes menschliche Wesen die Fähigkeit und das Potenzial, das Gebetsheilen anzuwenden. Man muss keine besondere Gabe besitzen, ausser derjenigen, dass man den anderen jederzeit und überall helfen will, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Das ist sogar eine Vorschrift des Gebetsheilens: Ein Gebet darf nie bezahlt werden.

Wie sind Sie zum Gebetsheilen gekommen?

Bereits als kleines Mädchen hörte ich von diesen Personen sprechen, die fähig sind, Verbrennungen zu heilen, und ich träumte davon, das auch zu lernen. Während meines Medizinstudiums habe ich nicht mehr daran gedacht. Im Verlauf meines Medizinpraktikums hat mir ein Mitglied meiner Schwiegerfamilie angeboten, mich ins Gebetsheilen einzuweihen. Am häufigsten benutze ich die Gebete zur Schmerzlinderung, ich habe aber auch Gebete für Verbrennungen und andere Leiden erhalten.

Wie läuft das konkret ab?

Wenn wir die Ressourcen der wissenschaftlichen Medizin ausgeschöpft haben und ich eine gewisse Offenheit spüre, kann ich den Patientinnen und Patienten vorschlagen, sie mit Gebeten zu begleiten. Manchmal spreche ich die Gebete laut aus, aber meistens geschieht alles in der Stille und mit geschlossenen Augen. Damit die Person das Gebet empfangen kann, ist es wichtig, dass sie eine möglichst bequeme Position einnimmt und gut zentriert ist, damit die gesamte Energie, die uns umgibt, zirkulieren und zu ihr gelangen kann.

Was empfinden Sie während der Gebete?

Beim Gebet zur Schmerzlinderung spüre ich ein Abbild des Schmerzes der Person, eine Art von «nicht schmerzhaftem Schmerz». Der Schmerz ist gegenwärtig, aber es ist nicht mein Schmerz. Beim Gebet zur Heilung von Verbrennungen spüre ich oft Kältewellen an der Stelle, an der sich die Person verbrannt hat. Ich versuche immer, für das Empfinden der Person offen zu sein, unabhängig davon, ob sie in meiner Nähe oder weit von mir entfernt ist. Manchmal sehe ich Bilder, manchmal spüre ich ein Kribbeln in den Gliedmassen und ich habe das Gefühl, dass Strom durch mich hindurchfliesst, wie eine Art Energie, die zirkuliert. Mein Empfinden ist abhängig von der Person, für die ich das Gebetsheilen anwende.

Wie ist Ihr Verhältnis zur Religion und allgemeiner zum Unsichtbaren?

Ich bin christlich erzogen worden, aber ich praktiziere nicht. Das Gebetsheilen wende ich also nicht in einem speziellen religiösen Kontext an. Einige Gebete sind katholischen Ursprungs, andere stehen nicht mit der Religion in Zusammenhang. Beim Gebet spüre ich etwas Unermessliches, das uns alle umgibt und das man unterschiedlich benennen kann: Gott, das Göttliche, der Ursprung von allem oder das universelle Bewusstsein… Seit ich das Gebetsheilen anwende, habe ich festgestellt, dass es mit Babys und Tieren sehr gut (sogar besser!) funktioniert. Diese Gabe scheint also nicht vom Glauben an ein Dogma oder eine besondere Religion abzuhängen …

Wie haben die Kolleginnen und Kollegen und Ihre Vorgesetzten reagiert?

Ihre Reaktionen haben mich oft positiv überrascht. Natürlich gibt es Abteilungen, die sich für die Praxis des Gebetsheilens besser eignen, wie die Geriatrie oder die Palliativmedizin. Allerdings habe ich festgestellt, dass die meisten von uns bereits eine direkte Erfahrung mit dem Gebetsheilen oder mit einem Heiler gemacht haben (Verbrennungen, Schmerzen, usw.) oder jemanden kennen, der sich an einen Heiler gewandt hat.

«Wir behandeln eine Krankheit, aber unsere Versorgung richtet sich in erster Linie an die Person in ihrer Gesamtheit. Es ist wichtig, dass sich die Person in ihrem Leiden wahrgenommen fühlt. Die wissenschaftliche Medizin (evidence based) hat nicht auf alles eine Antwort. Deshalb arbeiten wir in der Abteilung Palliativmedizin mit anderen Disziplinen wie KunsttherapieMusiktherapie, Akupunktur, manchmal mit der Aromatherapie oder auch dem Gebetsheilen zusammen. Florence Sierro-Müller setzt sich bei ihren Patientinnen und Patienten als Ärztin, aber auch als Mitmensch mit ihren Gebeten ein. Es ist sehr wichtig zu spüren, dass diese Beziehung der Hilfe, auch über eine grosse Distanz, vorhanden ist.»
Dr. May Monney, Abteilungsleiterin Palliativmedizin im Spitalzentrum des französischsprachigen Wallis (CHVR)

Wie bringen Sie diese zwei Welten im Alltag unter einen Hut?

Ich schlage das Gebetsheilen als Ergänzung, aber nie als Ersatz für eine Behandlung vor. Auch wenn ich ein Gebet zur Schmerzlinderung spreche, gebe ich der Patientin oder dem Patienten bei Bedarf trotzdem Morphin. Das geschieht alles ganz natürlich und ohne Konflikt, da die beiden Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Die wissenschaftliche Medizin arbeitet mit dem Körper, während sich das Gebetsheilen an den Geist und an die Energie wendet, die im Körper zirkuliert. Ich bin heute mehr denn je von der Notwendigkeit überzeugt, die Patientinnen und Patienten in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Körper und Geist sind zwei voneinander abhängige Aspekte derselben Realität.

Welches sind die Vorteile einer integrierenden Medizin?

Wenn man die Alternativmedizin in Ergänzung zu einem wissenschaftlichen Ansatz einbringt, ermöglicht ihre Anerkennung und Integration bei der therapeutischen Reflexion eine bessere Patientenversorgung. Wenn der Arzt diese Diskussion nicht führen will, wird die Patientin oder der Patient bei Bedarf trotzdem auf Komplementärtherapien zurückgreifen. Allerdings ist das nicht immer ohne Risiko. Die Phytotherapie kann zum Beispiel grosse Auswirkungen haben und unerwünschte Interaktionen mit gewissen Medikamenten hervorrufen. Deshalb ist es meiner Ansicht nach von grundlegender Bedeutung, das Spektrum der Möglichkeiten auszuweiten und sich für die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten zu interessieren, um die vorgeschlagene Therapie zu optimieren und zu individualisieren.

Was sagen Sie den Skeptikerinnen und Skeptikern?

Abgesehen von meinen Empfindungen, die ich nicht erfinden kann, habe ich spürbare und messbare Ergebnisse beobachtet. Zum Beispiel hat eine Freundin an der Hand eine Verbrennung 2. Grades erlitten. Bei ihr ist überhaupt keine Narbe zurückgeblieben, obwohl auf ihrer hellen Haut eine Depigmentierung sichtbar sein müsste. Ich habe keine wissenschaftliche Erklärung dafür, weshalb das funktioniert. Es genügt mir zu wissen, dass das Gebetsheilen zum Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten beiträgt. Das Wichtigste ist schliesslich, dass wir den Leidensdruck der Personen mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, lindern können.

Die integrierende Medizin entwickelt sich in einer einschliessenden Logik
«Es geht nicht darum, eine Chemotherapie durch eine Chromotherapie oder eine Massage zu ersetzen, sondern darum, die verschiedenen therapeutischen Schritte der Patientin oder des Patienten, die ihr oder ihm Linderung verschaffen, miteinander zu verbinden. In diesem neuen Paradigma sind die Patientinnen und Patienten nicht passive Empfänger, sondern Dirigentinnen und Dirigenten, welche die verschiedenen Partner des Gesundheitswesens koordinieren.»

Prof. Eric Bonvin, Generaldirektor des Spital Wallis

Nützliche Links:
Initiative Santé intégrative & Société
Le grand débat – Médecine classique et thérapies naturelles: une collaboration possible ? – rts.ch – Portail Audio
Florence Müller, une faiseuse de secret à l’hôpital – rts.ch – Portail Audio
Dr. Esther Wiedmer, Allgemeinärztin: au-delà du corps physique – rts.ch – Portail Audio
Clare Munday, Onkologin und Heilerin – rts.ch – Portail Audio
Patient et système de santé : vers un changement de culture – L’uniscope (unil.ch)
Brigitte Rorive: «Les gens ne veulent plus d’une médecine paternaliste» | Illustré (illustre.ch)
“Apprendre à écouter le patient” : des ateliers pour mieux former les médecins à l’empathie (radiofrance.fr)
36,9° – Opérations sous hypnose – Play RTS

Über den Autor/die Autorin

Francesca Genini-Ongaro

Collaboratrice spécialisée en communication