Medizin & Pflege Testimonials

Gespräch mit einer Kriminologin, zwischen Medizin und Justiz

Ein strafrechtliches psychiatrisches Gutachten über Personen, die im Verdacht stehen, Delikte oder Verbrechen begangen zu haben, oder deswegen angeklagt sind, ist heute weit verbreitet. Die Evaluation des Risiko eines Rückfalls und die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Straftäterinnen und Straftäter ist in einem psychiatrischen Gutachten von zentraler Bedeutung. Entsprechend gross ist die Verantwortung der Expertinnen und Experten sowie der forensischen Psychiater und Psychologen. Um mehr über diesen unbekannten Beruf zu erfahren, haben wir uns mit Aline Oberson, Psychologin und Kriminologin im Zentrum für medizinische Begutachtungin des Spital Wallis, unterhalten.

Von einer strafenden Justiz zu einer Justiz, bei welcher der Schutz der Gesellschaft im Mittelpunkt steht

Seit dem XIX. Jahrhundert werden Psychiater vor Gericht geladen, um zur Evaluation der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten beizutragen. Ursprünglich arbeiteten sie in einem Rechtssystem, das auf der Bestrafung und einem «gerechten» Strafmass aufgebaut war. Heute besteht der Auftrag der Kriminologinnen und Kriminologen vor allem in der Evaluation der «Gefährlichkeit» der begutachteten Personen. Das Ziel? Das Erstellen einer Prognose in Bezug auf das Risiko eines Rückfalls, damit geeignete Massnahmen ergriffen werden können, um das Risiko neuer Straftaten zu reduzieren und die Gesellschaft zu schützen.


Gespräch mit Aline Oberson, Psychologin und Kriminologin im Spital Wallis


Worin besteht Ihre Aufgabe?

Meine Arbeit als Kriminologin in der Abteilung Medizinische Gutachten des Spital Wallis besteht darin, in Zusammenarbeit und unter der Verantwortung eines forensischen Psychiaters psychiatrische Gutachten zu erstellen. Begutachtet werden Personen, die eine Straftat verübt haben oder im Verdacht stehen, eine solche verübt zu haben. Angesichts der Komplexität unserer Aufgabe arbeiten wir immer im Binom Psychiater-Psychologe.

Bei welcher Art von Situationen werden Sie beigezogen? Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Im Allgemeinen intervenieren wir vor einem Gerichtsurteil. Wir werden kontaktiert, um spezifische Fragen in Bezug auf die psychische Gesundheit einer Person und ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit zu beantworten.

Ein fiktives Beispiel kann unsere Intervention erläutern. Stellen wir uns einen Familienvater ohne strafrechtliche Vorgeschichte vor, der ohne offensichtliche Erklärung seine Frau und seine Kinder äusserst brutal misshandelt. Der Staatsanwalt, der mit der Untersuchung des Dossiers dieser Person beauftragt ist, findet es merkwürdig, dass der Mann so plötzlich handgreiflich geworden ist, obwohl er bisher nie ein ähnliches Verhalten an den Tag legte. Er stellt sich die Frage, ob allenfalls eine psychiatrische Erkrankung diese plötzliche Veränderung erklären könnte. In solchen Fällen werden wir kontaktiert, um gewisse Fragen zu beantworten und dem Staatsanwalt dabei zu helfen, die Situation zu verstehen. Wir könnten beauftragt werden, die psychische Gesundheit und die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Familienvaters zu evaluieren, allfällige psychiatrische Störungen zu identifizieren und zu bestimmen, ob psychologische Faktoren sein gewalttätiges Verhalten erklären könnten.

Woraus besteht ein psychiatrisches Gutachten?

Vorerst nehmen wir die Strafakte der Person zur Kenntnis, die begutachtet werden soll. Diese Akte wird uns von der Justiz übermittelt. Nach einer Analyse der Unterlagen führen wir die Gespräche mit der betroffenen Person. Dabei sammeln wir Informationen über ihren Lebenslauf, ihre medizinische und psychiatrische Vorgeschichte. Dann sprechen wir über die Vorgänge, die zum Verdacht oder, je nach Stand des Verfahrens, zur Anklage geführt haben. Wenn die begutachtete Person ihre Ärzte vom Arztgeheimnis befreit, können wir die Informationen im Patientendossier zur Kenntnis nehmen. Wir sammeln auch aussagekräftige Informationen über den psychologischen Zustand der Person zur Zeit des Tatvorgangs.

Welche Art von Fragen müssen Sie im Rahmen eines psychiatrischen Gutachtens beantworten?

Hier sind einige der wichtigsten Fragen, die wir zu beantworten haben:

  1. Kann man zum Zeitpunkt des Tatvorgangs von einer psychischen Störung ausgehen? Falls ja, besteht ein kausaler Zusammenhang mit der Tat?
  2. Kann man bei der Person zur Tatzeit von einer Schuldfähigkeit ausgehen?
  3. Wie hoch ist das Risiko eines Rückfalls?
  4. Kann eine therapeutische Massnahme empfohlen werden, um das Risiko eines Rückfalls zu reduzieren?
Wie evaluieren Sie das Risiko eines Rückfalls?

Das Risiko eines Rückfalls wird mit Hilfe von spezifischen Skalen evaluiert, die verschiedene Faktoren berücksichtigen. Es handelt sich nicht um eine subjektive Beurteilung, die sich nur auf das Dossier der betroffenen Person abstützt. Wir überprüfen mehrere Kriterien wie die kriminelle Vorgeschichte, das Arbeitsverhältnis, die Stabilität der Lebenssituation sowie andere aussagekräftige Elemente. Anhand der erhaltenen «Punktzahl» können wir das Risiko eines mittelfristigen Rückfalls als gering, mässig oder hoch einschätzen. Unser Streben nach wissenschaftlicher Objektivität ist immer von einer gewissen Unsicherheit begleitet. Man muss sich der Tatsache bewusst sein, dass unsere Analysen Einschätzungen sind.

Wer sind Ihre wichtigsten Arbeitspartner?

Innerhalb des Spital Wallis arbeiten wir mit Neuropsychologen und der Toxikologie zusammen. Es kommt auch vor, dass wir eine zerebrale Bildgebung benötigen.
Unser Hauptpartner ist das Justizsystem. Wir arbeiten eng mit den Staatsanwälten zusammen, die uns mit den Gutachten beauftragen. Aber auch die Richter beanspruchen unsere Dienstleistungen, um die Wirksamkeit der Massnahme zu evaluieren, die sie vorschlagen. Manchmal kann mit der Massnahme das Risiko eines Rückfalls so reduziert werden, dass keine weiteren Schritte nötig sind. Es kommt jedoch auch vor, dass eine Massnahme nicht die erhoffte Wirkung erzielt und eine andere, geeignetere Massnahme vorgeschlagen werden muss.

Wie verlaufen die Gesprächen mit den begutachteten Personen?

Im Allgemeinen sind wir mit diesen Personen allein. Anwälte und Sicherheitsagenten halten sich ausserhalb des Gesprächsraums auf, um die Vertraulichkeit des Austausches zwischen dem Experten und der betroffenen Person zu gewährleisten. Die meisten Personen sind trotz ihrer schwierigen Situation kooperativ und relativ ruhig. Sie wissen, dass sie analysiert und untersucht werden, was Unbehagen oder gar Angstzustände auslösen kann. Mit einigen Personen ist die Zusammenarbeit schwieriger. Es kommt vor, dass sie nicht zum verabredeten Gespräch erscheinen, obwohl sie sich in Freiheit befinden. Auch Personen, die sich im Gefängnis befinden, können sich weigern, in den Gesprächsraum zu kommen. Aber das ist eine Minderheit.

Unterstehen die Gespräche mit den begutachteten Personen dem Arztgeheimnis?

Bei den Gesprächen informieren wir die Person klar, dass wir dem Arztgeheimnis unterstehen. Wir betonen aber auch, dass im Rahmen des Auftrags für das Gutachten alles, was während der Gespräche gesagt wird, im Gutachten erwähnt werden kann. Die Informationen stehen der auftraggebenden Behörde, also dem Staatsanwalt oder dem Richter, zur Verfügung.

Was motiviert Sie zu dieser Arbeit?

Auch wenn wir mit Personen konfrontiert sind, die schreckliche und verwerfliche Taten begangen haben oder solcher Taten verdächtigt werden, handelt es sich immer noch in erster Linie um Menschen. Jedes Gutachten befasst sich mit einer Person, die schwierige Situationen erlebt hat. Im Gegensatz zum Bild, das die Medien oft vermitteln, habe ich immer den Eindruck, mit Menschen und nicht mit Monstern zu arbeiten. Jede neue Begegnung mit einer begutachteten Person ist für mich eine Gelegenheit, ihren einzigartigen Lebenslauf, ihre Lebenserfahrungen und die Faktoren zu begreifen, die zu ihrer Tat geführt haben. 

Wir vergessen aber auch nicht, dass die Opfer und ihr Umfeld immer unter einer Straftat leiden.

Kommt es vor, dass Sie Kriminelle, denen Sie begegnen, verurteilen oder verabscheuen?  

Unsere Rolle als Kriminologen besteht nicht darin, Personen zu verurteilen oder ihre Taten zu entschuldigen. Wir sammeln die Informationen und evaluieren ihren psychischen Zustand zum Zeitpunkt der Straftat, um die auftraggebende richterliche Behörde zu unterstützen.

Wenn wir mit Straftätern oder Kriminellen zu tun haben, müssen wir eine emotionale Distanz aufrechterhalten, um unsere Objektivität zu bewahren. Die systematische Arbeit im Binom hilft uns, eine gewisse Objektivität aufrechtzuerhalten. Trotz der Empathie oder der Antipathie, die wir für eine Person empfinden können, bleibt unser erstes Ziel, ein strafrechtliches psychiatrisches Gutachten zu liefern, das auf Tatsachen und Daten beruht, um die Justiz bei einer aufgeklärten Urteilsfindung zu unterstützen.

Wie halten Sie diese Konfrontation mit den schlimmsten menschlichen Facetten aus?  

Wir führen tatsächlich eine Arbeit aus, die schwierig sein kann. Manchmal benötigen wir deshalb auch die Unterstützung unserer Kollegen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Personen, die wir evaluieren, einen kleinen Teil der Bevölkerung darstellen, der nicht die gesamte Menschheit widerspiegelt. Und nur ein verschwindend kleiner Teil der Personen leidet unter psychischen Störungen.

Ist für Sie in diesem Zusammenhang die Teamarbeit entscheidend?

Absolut. Die Lektüre gewisser Strafakten kann schockierend sein. In meinen Augen ist es äusserst wichtig, dass wir diese Erfahrungen mit unseren Kollegen teilen können. Das Besprechen schwieriger Fälle im Team kann dazu beitragen, komplexe Situationen besser zu verstehen, verschiedene Ansichten kennenzulernen und effizientere Lösungen zu finden. Dies ermöglicht auch, eine gewisse Distanz einzunehmen und die eigenen Gefühle ins richtige Verhältnis zu setzen.

Gibt es in der Schweiz auch Serienkiller amerikanischer Art?

Die Schweiz hat weltweit eine der tiefsten Kriminalitätsraten, insbesondere in Bezug auf die Tötungsdelikte. Serienmörder sind äusserst selten, werden jedoch von den Medien aufgebauscht.
Der soziale und politische Kontext in der Schweiz kann nicht mit demjenigen in den Vereinigten Staaten verglichen werden. Das trägt vielleicht auch zu diesem Unterschied bei. Ausserdem haben die neuen Untersuchungstechniken im Bereich der Kriminologie eine bessere Früherfassung ermöglicht, so dass Kriminelle identifiziert werden, bevor sie eine Serie von Straftaten begehen.

Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag aus?

Mein typischer Tag als Kriminologin in der Abteilung Medizinische Gutachten des HVS setzt sich aus verschiedenen Hauptarbeiten zusammen:

  1. Lektüre und Studium der Dossiers
  2. Gespräch mit der betroffenen Person
  3. Reflexion und Schreibarbeit während des gesamten Redaktionsprozesses gemeinsam mit dem Psychiatrieexperten
  4. Verfassen des Gutachtens

Vorerst prüft der Kriminologe aufmerksam den Auftrag des Staatsanwalts oder des Richters, um die betroffene Person begutachten zu können. Er studiert die Strafakte dieser Person im Detail, um ihre Situation richtig zu verstehen. Bereits zu Beginn des Verfahrens für das Gutachten findet zudem eine Sitzung mit dem Psychiatriexperten statt, um die Arbeit bis zur Lieferung des Gutachtens an den Auftraggeber zu organisieren.

Anschliessend werden die Gespräche mit der begutachteten Person festgelegt. Wenn sie sich in Freiheit befindet, kann sie allein zum Gespräch kommen. Befindet sie sich in Haft, begeben wir uns für das Gespräch in die Haftanstalt. Ziel der Gespräche ist die Untersuchung des Lebenslaufs der Person, ihrer Erfahrungen und der Tatbestände, die ihr zur Last gelegt werden, sowie der Gründe, die sie zur Tat bewegt haben.

Die folgende Phase besteht in der Redaktion des Berichts. Sie erfordert einen bedeutenden zeitlichen Aufwand. Der Kriminologe überträgt alles, was die Person während der Gespräche gesagt hat. Anschliessend führt er sämtliche notwendigen Analysen aus, um die Verantwortlichkeit der Person, das Risiko eines Rückfalls und andere aussagekräftige Elemente zu evaluieren.

Welche Erfahrung hat Sie am meisten geprägt?

Es ist nicht eine spezifische Erfahrung. Was mich oft prägt, ist die Tatsache, dass manche begutachteten Personen seit ihrer Kindheit mit komplexen Lebenserfahrungen konfrontiert sind. Der Kontext, in dem sich eine Person entwickelt, kann ihre Handlungen und Verhaltensweisen nämlich stark beeinflussen. Meine Rolle als Kriminologin besteht darin, diese Lebensumstände aufmerksam zu untersuchen, um zu verstehen, wie sie allenfalls zu kriminellen Handlungen geführt haben.

Video-Interview mit Aline Oberson, Kriminologin im Spital Wallis (auf Französisch)

Über den Autor/die Autorin

Francesca Genini-Ongaro

Collaboratrice spécialisée en communication