Medizin & Pflege

Autismus: die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnose

Wir haben alle bereits in irgendeiner Weise von Autismus-Spektrum-Störungen gehört. Der Ausdruck «Autismus» ist erstmals in den 1940er-Jahren verwendet worden. Aber erst seit rund dreissig Jahren befassen sich Erziehungs- und Entwicklungsfachleute systematisch mit diesem Phänomen. Es ist mittlerweile bekannt, dass die Chancen für die soziale Integration einer Person mit Autismus-Spektrum-Störungen umso grösser sind, je früher mit einer geeigneten Unterstützung begonnen wird. Um mehr über dieses Thema zu erfahren, haben wir uns mit Frau Dr. Claudia Poloni, Leitende Ärztin der Abteilung Neuropädiatrie am Spitalzentrum des französischsprachigen Wallis, unterhalten.

Frau Dr. Claudia Poloni,
Leitende Ärztin der Abteilung Neuropädiatrie am Spitalzentrum des französischsprachigen Wallis 

Was ist Autismus?

Autismus ist weder eine geistige Behinderung noch eine Krankheit, sondern eine Entwicklungsstörung, die sich durch zahlreiche Symptome ausdrückt. Auch wenn der Ausdruck «Autismus» umgangssprachlich noch verwendet wird, sprechen die Fachleute von Autismus-Spektrum-Störungen. «Die meisten Autismus-Spektrum-Störungen betreffen Kommunikations- und Interaktionsprobleme», erklärt uns Dr. Claudia Poloni. Ein gemeinsames Merkmal autistischer Personen ist die Zurückgezogenheit. Die Symptome können jedoch bei jeder Person ganz unterschiedlich sein.

In welchem Alter treten die ersten Symptome auf?

«Die Symptome einer möglichen Entwicklungsstörung können sehr früh, oft schon in den ersten Lebensmonaten, auftreten», stellt Dr. Poloni fest. Sie können sich aber auch später, zwischen 18 und 36 Monaten, zeigen: «in diesen Fällen scheint sich das Kind ganz normal zu entwickeln, aber im Alter von zwei Jahren zeigt sich ein Verlust der erworbenen Fähigkeiten», merkt die Neuropädiaterin an. Es ist auch möglich, dass ein belastendes Ereignis im Leben eines Kindes, wie z.B. eine Scheidung oder ein Trauerfall, die Symptome einer Autismus-Spektrum-Störung verschlimmern kann. Dann gibt es relativ leichte Formen von Autismus, die erst im Erwachsenenalter oder gar nicht diagnostiziert werden. Es handelt sich dabei im Allgemeinen um Personen mit guten oder überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten. Die Störung ist nicht erkannt worden, aber der Preis ist ein Leidensdruck, der mit einer geeigneten Unterstützung in der Kindheit zu vermeiden gewesen wäre.

Die Anzeichen erkennen

Hier folgen einige Beispiele von Verhaltensweisen, die mit einer Autismus-Spektrum-Störung in Zusammenhang sehen könnten:

  • Fehlendes «Imitieren des Lachens» beim Baby
  • Fehlender oder geringer Blickkontakt oder körperlicher Kontakt
  • Fehlendes Interesse für gewisse Spielarten (so tun also ob, symbolisch)
  • Verzögerung oder Seltsamkeiten in der Sprachentwicklung

Eine andere Charakteristik der Autismus-Spektrum-Störungen ist die Überempfindlichkeit wie zum Beispiel:

  • Überempfindlichkeit auf gewöhnliche Geräusche (Staubsauger, Haartrockner, Autos, …)
  • Überempfindlichkeit auf Gewebe mit einer Intoleranz zum Beispiel auf gewisse Kleidungsstücke
  • Überempfindlichkeit auf Nahrungsmittel, die sich durch die Weigerung ausdrückt, gewisse Nahrungsmittel zu essen (Selektivität) oder zum Beispiel Nahrungsmittel zu essen, die sich berühren oder die mit einer Sauce versehen sind

Was ist im Zweifelsfall zu tun?

Im Zweifelsfall besteht der erste Schritt darin, mit dem Hausarzt des Kindes darüber zu sprechen, der die beobachteten Anzeichen besser evaluieren kanns. Im Allgemeinen handelt es sich um den Kinderarzt, der vertiefte Untersuchungen durchführen wird. Seit 2019 bietet das Spital Wallis eine auf die Diagnose von Entwicklungsstörungen spezialisierte multidisziplinäre Sprechstunde an, in der Neuropädiater, Kinderpsychiater und Psychologen ergänzend und eng zusammenarbeiten. «Die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung weist zahlreiche Facetten auf und erfordert einen multidisziplinären Ansatz», betont Dr. Poloni. «Gemeinsam mit Dr. Guignet, Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie im Spital Wallis, haben wir festgestellt, dass die Kinder mit Entwicklungsstörungen unterschiedlich behandelt worden sind. Deshalb haben wir eine neue Sprechstunde angeboten. Wir sind immer da, um die Fragen der Eltern zu beantworten. Allerdings wird empfohlen, vorerst mit dem Hausarzt des Kindes Kontakt aufzunehmen, bevor man diese Sprechstunde in Anspruch nimmt», fügt die Neuropädiaterin an.

Die Reaktion der Familien

Jede Familie reagiert anders auf die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung. «Nicht selten brechen die Eltern in Tränen aus, weil das Wort «Autismus» schwer wiegt», erzählt Dr. Poloni, «aber auf die Angst folgt oft die Erleichterung. Noch heute Vormittag habe ich mit einer Familie gesprochen, die mir mitgeteilt hat, dass sie erleichtert sei und angesichts des Gefühls des Misserfolgs keine Schuldgefühle mehr haben müsse. Die Diagnose darf nicht als ein Schlusspunkt aufgefasst werden. Vielmehr öffnet sie eine Tür zu neuen Hilfsmöglichkeiten. Ich sage den Eltern oft, dass dies weder ihr Kind noch ihre Ansicht über ihr Kind ändert. Aber die Ansicht der anderen ändert sich. Die Diagnose ist eine Art Schlüssel, der den Eltern helfen kann, ihr Kind besser zu verstehen, wenn sie mit ihm in Kontakt treten, und auf Werkzeuge zurückzugreifen, die besser an seine Bedürfnisse angepasst sind», fügt die Neuropädiaterin hinzu. Eine optimierte, rasche und proaktive Behandlung ist für die Prognose eines Kindes mit einer Autismus-Spektrum-Störung nämlich entscheidend. «Je eher man eine Störung erkennt, desto früher kann sie behandelt werden. Eine frühzeitige Unterstützung ist die beste Möglichkeit, einem Kind alle Chancen zu geben, sich besser kennenzulernen, um Strategien zur Verbesserung seiner sozialen Kompetenzen zu entwickeln», betont Dr. Poloni.   

Eine langfristige und bereichsübergreifende Behandlung

Auch wenn die Diagnose wichtig ist, stellt sie nur eine kleine Etappe der Behandlung einer Person mit einer Autismus-Spektrum-Störung dar. «Als Neuropädiater intervenieren wir bei der Diagnose nur punktuell. Ein sehr wichtiger Teil der Behandlung wird von Kinderpsychiatern und Psychologen übernommen, die das Kind in seinen verschiedenen Lebensetappen langfristig begleiten», präzisiert die Fachärztin. «Wir sorgen immer für eine enge Zusammenarbeit zwischen Psychiatern, Psychologen, Logopäden, Ergotherapeuten, Erzieherinnen, Schule, Lehrpersonen und dem ganzen verfügbaren Unterstützungsnetz», erläutert Dr. Poloni abschliessend.

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Über den Autor/die Autorin

Francesca Genini-Ongaro

Collaboratrice spécialisée en communication

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