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Besser Leben mit Schmerzen

Akute und chronische Schmerzen sowie seelische Leiden beeinflussen unser Wohlbefinden, unsere Lebensqualität und manchmal sogar unsere Existenz. Gibt es Mittel und Wege, diese Schmerzen zu lindern? Die Expertin und ärztliche Leiterin der Abteilung Schmerztherapie am Spitalzentrum Oberwallis (SZO), Dr. Birgit Sojer, widmet sich diesem Fachgebiet und den betroffenen Menschen.

Die europäische «Pain-Studie» von 2005 zeigte auf, dass 19 % aller Erwachsenen unter chronischen Schmerzen leiden. In der Schweiz lag der Wert bei 16 %: Jeder 6. Schweizer hat somit ein chronisches Schmerzproblem.

Unterschied: akuter und chronischer Schmerz

«Der akute Schmerz ist etwas sehr Sinnvolles und Lebenserhaltendes mit seiner Schutz- und Warnfunktion: Er meldet uns Beschädigungen am Organismus. Aufgrund des Schmerzes bei einem Knochenbruch zum Beispiel halten wir den Körperteil mit dem Bruch bewusst ruhig, was die Wundheilung fördert; der Schmerz verschwindet mit der Zeit. Beim chronischen Schmerz ging diese Melde-, Schutz- und Heilfunktion verloren. Er wird zu einer eigenständigen Schmerzkrankheit. Diese häufigen anhaltenden Schmerzen bestehen generell länger als 3 Monate.»

Dr. Birgit Sojer
Chefärztin und Leiterin der Abteilung Schmerztherapie am SZO

Körperliche und psychische Ursachen

«Jeder chronische Schmerz war zuvor akut. Beispiel Rückenschmerzen: Unsere moderne Gesellschaft bewegt sich viel zu wenig. Abgesehen vom Schlaf, verbringen wir 90 % unseres Tages im Sitzen. Aufgrund mangelnder Durchblutung verkümmert die Rücken- und Bauchmuskulatur und kann die Knochen und Gelenke nicht mehr ausreichend stützen.»

Der Teufelskreis beginnt mit dem sogenannten Hexenschuss. «Wenn wir den Hexenschuss nicht adäquat behandeln und die verspannte Muskulatur lösen, verkürzt und verhärtet sie sich. Die Folge: Der Muskel wird noch schlechter durchblutet und übersäuert, was wir als Muskelschmerz wahrnehmen. Gerade jetzt sollte man nicht den Fehler machen, sich aufgrund des Schmerzes zu schonen, sondern sich schnellstmöglich wieder bewegen», rät die Fachärztin aus Brig.

«Nicht nur körperliche, sondern auch psychische Leiden wie lang anhaltender Stress können zu chronischen Schmerzen in verschiedenen Bereichen des Körpers, u.a. Gesicht, Kopf, Rücken, Bauch, sowie zu Ganzkörperschmerzen wie Fibromyalgie (Faser-Muskel-Schmerz) führen.»

Ständige Schmerzen zermürben einen Menschen

Andauernde Schmerzen führen zu physischer, psychischer und sozialer Zermürbung. «Die Aufmerksamkeit wird von der Umwelt weg ganz auf den eigenen Körper gerichtet. Chronische Schmerzzustände sind für die Mitmenschen schwer nachvollziehbar und finden auf Dauer wenig Verständnis. Zuerst leidet der Partner oder die Familie unter der depressiven Verstimmung, Reizbarkeit oder Interesselosigkeit der Person; später dann das soziale Umfeld oder gar das Arbeitsverhältnis. Schmerzpatienten ziehen sich vom Sozialleben zurück, gehen ihren Hobbys nicht mehr nach, verlieren im schlimmsten Fall ihren Job oder nehmen sich aus Verzweiflung das Leben.»

Schmerzempfindung und /-wahrnehmung ist subjektiv

«Chronische Schmerzen sind oft diffus, wandern im Körper herum und haben einen dumpfen, ziehenden und zermürbenden Charakter. Die Schmerzempfindung ist dabei immer subjektiv. Sie ist eine Wahrnehmung wie Schmecken, Hören oder Riechen und ein negativ belastetes Gefühl wie Wut, Ärger oder Trauer. Die Schmerzwahrnehmung ist unterschiedlich und hängt u.a. ab

  • vom Geschlecht (Mann oder Frau);
  • von der Kultur;
  • von der Erziehung (z.B. falsche Belohnungsreize beim Kind, damit es aufhört zu weinen);
  • von genetischen Erkrankungen, z.B. bei einer Fibromyalgie der Mutter oder Grossmutter.»

Schmerzskala von 0 bis 10

Weil Schmerz subjektiv ist, hilft eine Skala bei der Einstufung. «0 entspricht keinem Schmerz und 10 einem maximalen Schmerz. Schmerzspezialisten arbeiten auch mit Fragebögen, um die biopsychosozialen Komponenten des Schmerzes zu erfassen und das Ausmass des Leidens sowie das Stadium der Chronifizierung genauer einschätzen zu können. Weitere Abklärungen wie Blutentnahmen sind nur nötig, wenn wir andere Ursachen, u.a. chronische Entzündungen oder Vitaminmangel, ausschliessen wollen.»

Chronischen Schmerzen vorbeugen

Es bleibt in etwa dasselbe Rezept wie bei Bluthochdruck, Diabetes oder Herzkreislauf-Erkrankungen: «Gesunde Ernährung, viel Bewegung, ein abwechslungsreiches Leben mit einer gesunden Work-Life-Balance. Wenn man dann noch eine liebevolle Partnerschaft, einen interessanten Job, ein gutes soziales Umfeld und bereichernde Hobbys hat, sollten keine chronischen Schmerzprobleme auftreten.»

Frau G. aus Susten hat vor gut einem Jahr am Schmerzprogramm im Brig teilgenommen. Zuerst eher skeptisch eingestellt, blickt Sie heute begeistert auf die Therapiewochen zurück.

«Der ganzheitliche Ansatz hat für mich gestimmt. Unter den diversen Therapieformen fand ich, was mir entspricht und was ich im Alltag umsetzen kann. Im Bewegungsbereich zum Beispiel habe ich mich mit Ausdauerlauf angefreundet und gehe heute täglich ein paar Stunden walken. Mit demselben Elan habe ich die Ernährung umgestellt und stolze 25 kg abgenommen. Ich war noch nie so fit wie heute. Auch die Faszien-Yoga-Übungen mache ich weiter.»  

Bei der therapeutischen Sitzung mit dem Psychologen durfte der Partner dabei sein. «Durch das gemeinsame Gespräch wurde meinem Mann vieles klarer. Sein Verständnis für meine chronische Schmerzkrankheit hält bis heute an. Darüber hinaus hat er mittlerweile genauso Spass an den körperlichen Aktivitäten wie ich und geniesst die positiven Wirkungen wie z.B. Gewichtsabnahme.»

« Für mich persönlich ein positiver Aspekt: Wir waren eine reine Frauengruppe und haben uns gegenseitig motiviert. Wir treffen uns heute noch regelmässig und tauschen unsere Erfahrungen untereinander aus.»

Die chronischen Schmerzen am Bewegungsapparat seien nicht verschwunden, aber anders als früher.. « Ich versuche die Schmerzen nicht zu bekämpfen, sondern nehme sie an und gehe bewusst damit um. Ich behalte so meine Kraft und Lebensfreude.»

Frau G. empfiehlt diese Therapieform, gibt jedoch zu bedenken, dass die Schmerzpatienten bereit sein müssen, auch zu Hause aktiv weiterzumachen. «Nach den Therapiewochen ist man nicht ‘geheilt’, es braucht langfristig viel Mut und Disziplin, aber es lohnt sich.»

Chronische Schmerzen wirksam behandeln

«Oft werden die Patienten von einem Fachmann zum anderen geschickt», bedauert Birgit Sojer. «Im Durchschnitt dauert es 7 Jahre, bis ein Schmerzpatient zu einem Schmerzspezialisten kommt.»

Seit zwei Jahren bietet die Schmerzklinik in Brig neben den ambulanten Sprechstunden ein stationäres Schmerzprogramm an. «Ein interdisziplinäres multimodales Schmerzteam aus Schmerztherapeuten, -psychologen und -physiotherapeuten Schaut sich die Patienten von Kopf bis Fuss umfassend an. Wenn nötig werden Kollegen von anderen Fachrichtungen wie Orthopäden, Ärzte für Physikalische Medizin und Rehabilitationsneurologen für weitere Abklärungen mit ins Boot genommen.»

Mit Erfolg. «In 80 % der Fälle wurde das Ziel – eine Verbesserung der Lebensqualität, der Erhalt der Arbeitsfähigkeit oder gar die Rückkehr in den Arbeitsprozess – erreicht. Die Schmerzpatienten müssen bereit sein, aktiv etwas zu ihrer Gesundheit beitragen zu wollen», unterstreicht Frau Sojer. «In nur 3 ½  Wochen lernen sie mithilfe von intensiver Physiotherapie, psychologischen Gesprächen, engagierten Ergo-, Kunst- sowie Bewegungstherapeuten, speziell ausgebildeten «Pain Nurses» und viel Informationen rund um den Schmerz, wie sie ihre Lebensqualität trotz Schmerzen wieder steigern können.»


Weitere Informationen: Schmerzklinik

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Über den Autor/die Autorin

Diana Dax

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